Projektauswertung J. Aralowa – deutsche Übersetzung
Sechs Übersetzungsversionen als Übung für den Leser
Das hier veröffentlichte Projektmaterial enthält sechs russische Übersetzungsversionen der Erzählung WASCHTAG von Cornelia Ertmer. Einen Text zu übersetzen, so Umberto Eco, bedeutet „fast dasselbe zu sagen“[1]. „Fast“ – weil in einer anderen Sprache ein Teil der Sinngehalte und Assoziationen des Originals stets verloren geht, während anderes neu hinzugefügt wird, grammatisch bzw. stilistisch.
Im Ergebnis des Projektes von Marlies Wenzel entstanden sechs russische Übersetzungen, in denen „fast dasselbe“ gesagt wird, und doch unterscheiden sich die Texte voneinander. Diese Unterschiede erklären sich aus der Distanz, die es immer zwischen Übersetzung und Original gibt: Mit seinem „fast“ entfernt sich jeder Übersetzer vom Autor und folgt seiner eigenen Richtungsvorgabe. Und je mehr Übersetzungen ein und desselben Werkes vorliegen, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Leser dadurch einen umfassenden Zugang zum „Wesen des Originals“ erhält, diesem schwer greifbaren essentiellen Kern, oder zumindest zu einem Großteil davon. Allerdings ist es am Leser selbst, die Bedeutungsgehalte zu erschließen, ausgehend von den verschiedenen Versionen, die das Original mit den Augen des jeweiligen Übersetzers spiegeln.
Mehrere Übersetzungen ein und desselben Werkes sind eine Rarität, insbesondere was Übersetzungen von Prosatexten in die russische Sprache betrifft. Wer will schon „dasselbe“, scheinbar längst Bekannte, noch einmal übersetzen? Wer ist bereit eine Neuübersetzung zu finanzieren, wer sie aufmerksam zu lesen? Die Herausforderung dieser schwierigen und nicht unbedingt verlockenden Aufgabe liegt für Leser und Herausgeber, ja selbst für Übersetzer, nicht immer auf der Hand. Wenn jedoch mehrere Übersetzungsversionen vorliegen, umso mehr sechs an der Zahl, fällt es dem Leser leichter das Wesen des Autors von jenen Elementen zu trennen, die der Übersetzer zusätzlich in den Text einbringt, sei es sein eigener Stil, eine holprige Wortverbindung oder ein fremdartiges Sprachklischee. Im Übrigen können insbesondere die Arbeitsergebnisse beginnender Übersetzer einander stark ähneln, weil sie mehr von der Grammatik des Originals gefangen sind. Der Übersetzer hat noch nicht verinnerlicht, dass er sich von der Struktur der Ausgangssprache lösen darf und vermag diese nicht immer von der Intention des Autors zu unterscheiden. Trotz alledem zeichnet sich jede Übersetzung durch eine spezifische Wahl von Wörtern und Konstruktionen aus und gewinnt dadurch ihre eigene Intonation. Ihre besondere Stimme und Farbe.
In dieser Hinsicht stellt die vorliegende Sammlung von Übersetzungen eine einzigartige Lektüre dar. Die Kurzgeschichte von Cornelia Ertmer hat einen klaren Inhalt und eine vielfältige Komposition. Mit einer Länge von zirka anderthalb Seiten bot sie den acht Projektteilnehmerinnen einen geeigneten Umfang für ein erstes Experiment dieser Art[2]. Für die deutschkundigen Leser gibt es die Möglichkeit, auch den Originaltext der Erzählung einzusehen, denn natürlich werden sie neugierig sein, wie dieser tatsächlich lautet.
Es liegt nahe, zunächst meinen persönlichen Eindruck von der Erzählung WASCHTAG zu beschreiben. Sie versetzt den Leser in eine Waschküche, wie sie früher zu Mehrfamilienhäusern gehörte und von den Familien im Wechsel für die „große Wäsche“ genutzt wurde. Die Ausstattung der Waschküche, die Abläufe beim Waschen, die anschließenden Arbeiten, mit denen die Wäsche in die gewünschte Form gebracht wurde – all das gibt es heute nicht mehr. Auf erstaunliche Weise hinterlässt die Erzählung über die aus heutiger Sicht höchst arbeitsintensive Waschprozedur beim Leser ein Gefühl des Bedauerns über den Verlust von etwas Vergangenem, regt dazu an, die Sicht des Kindes und des erwachsenen Betrachters zu vergleichen und mündet schließlich in dem Gedanken – ohne ihn je explizit zu formulieren – dass unser Bedauern nicht dem Verschwinden der Waschküche gilt, sondern dem Verlust eines magischen Blicks auf die Welt. Im Idealfall gelingt es dem Übersetzer, nicht nur den Inhalt der Erzählung originalgetreu wiederzugeben, sondern auch eine mit dem Original vergleichbare emotionale Wirkung zu erzielen.
Die Erzählung WASCHTAG ist in der dritten Person geschrieben, aber wir wissen, dass der Text aus C. Ertmers autobiografischem Sammelband „Der Geschmack von Lebertran. Eine Kindheit in den 50-er Jahren“ stammt. Trotz der distanzierenden Wirkung der dritten Person ist die Erzählung polyfon, in ihr schwingt sowohl die Stimme des kleinen Mädchens mit, das die Waschprozedur unmittelbar verfolgt, als auch die Stimme der Erzählerin – der erwachsenen Frau. Und in den Worten des Mädchens lassen sich, einem Echo gleich, die Worte der Mutter erahnen. Die Mutter selbst kommt in der Erzählung allem Anschein nach nicht zu Wort – wir sehen ihr nur zu, sie hat zu tun und keine Zeit zum Reden. Die Stimmen der beiden Erzählerinnen wechseln einander ständig ab und es entsteht der Eindruck, dass beide nebeneinanderstehen. So folgen auf lebendige Erinnerungen die Gedanken von heute, nicht immer sind sie eindeutig voneinander zu trennen. Cornelia Ertmer gelingt es, eine Verbindung herzustellen zwischen sich als kleinem Mädchen und ihrer heutigen Person – vermutlich besteht darin eines der Ziele autobiografischen Scheibens.
Der Anfang der Erzählung ist von einer mannigfaltigen und komplexen Alliteration geprägt: einer Häufung der stimmlosen Sibilanten [š], [ҫ], [s], [ts] im ersten Absatz einerseits und einer filigranen Symmetrie von Konsonanten in den ersten vier Wörtern der Erzählung andererseits: [d – w – š – ҫ – pf // f – ҫ – š – w – d]. Diesen Einstieg kann man als Lautmalerei interpretieren: Man hört das Zischen und Pfeifen, das Blubbern des kochenden Wassers im Kessel, das geräuschvolle Aufklatschen der nassen Wäsche, das Entlangschrammen an der Wand der Zinkwanne; die offenen Silben [va], [vɛ] stehen für das Tönen des metallenen Waschkessels bzw. der Wanne.
Das Stilmittel der Alliteration ist im gesamten Text präsent und ergänzt dessen Inhalt. So ist eine Konzentration der Laute [f, pf, h, x], die schweres Atmen andeutet, dort zu beobachten, wo der Blick der Erzählerin auf die physischen Anstrengungen der Mutter gerichtet ist. Den Laut [l] kann man mit Frische assoziieren (vgl. Luft, Licht, Seifenlauge) und möglicherweise mit Kindheit. Nicht zufällig beginnt das Wort lange, mit dem die Erzählung endet, ebenfalls mit diesem Laut.
Einige Passagen des Textes wirken rhythmisch organisiert. Besonders deutlich ist dieser Rhythmus im zweiten Satz (Trochäus) zu spüren und in der Phrase Die Unterwäsche kommt zuletzt (Jambus), wörtlich: „Нижнее бельё – в последнюю очередь“. Als mögliche Übersetzungsvariante schlage ich vor: „Трусы и майки – под конец“. Mir scheint, das Kind wiederholt wie ein Echo diese oft gehörte Phrase der Mutter, weil ihm der Rhythmus gefällt.
Die Personifizierung der Wäsche erreicht ihren Höhepunkt am Ende des dritten Absatzes, als die Wäsche sich dem Stampfer widersetzt und nicht in die Seifenlauge untertauchen will. Unmittelbar vor dieser Passage steht das Wort Waschzuber, ein Synonym für Waschtrog, das einen gewissen Gleichklang mit dem Wort Zauber aufweist. Hierin liegt, so meine ich, ein wichtiger Schlüssel zum Kern der Erzählung: Das Kind erlebt die Waschprozedur als magisches Zeremoniell. Vom Zischen und Dampfen beim Waschen ist es nicht weit bis zum feuerspeienden Drachen …
In einer Übersetzung können kaum alle Eigenheiten des Ausgangstextes erhalten bleiben und stets muss etwas geopfert werden. Gut, wenn der Übersetzer von dieser Tatsache Kenntnis hat und deshalb bewusst abwägt, welche Komponenten des Originals zwingend erhalten bleiben müssen und was möglicherweise vernachlässigt werden kann.
Meine Aufgabe ist es nicht, alle Unterschiede zwischen den vorliegenden Übersetzungen im Detail zu analysieren: Ich greife nur zwei Unterschiede und eine Gemeinsamkeit heraus.
Die größte Herausforderung beim Übersetzen von C. Ertmers Erzählung ist zweifelsohne ihre landeskundliche Prägung. Wenn ein solcher Text auf Leser trifft, die einer anderen Kultur angehören, verlagert sich sein Akzent: Der Text beschreibt in diesem Fall längst Vergangenes nicht aus dem eigenen Kulturkreis, sondern aus einem fremden. Archaismen, d. h. die Bezeichnungen für Gegenstände, die längst aus dem Gebrauch verschwunden sind, haben in der Zielsprache oft keine Äquivalente. Obwohl in der Erzählung WASCHTAG die Bedeutung von Archaismen speziell erklärt wird, muss man eine Übersetzung dafür finden oder versuchen, ganz ohne Terminus auszukommen und diesen durch eine umschreibende Konstruktion zu ersetzen. Genau hier wird einer der Unterschiede in den Strategien der studentischen Übersetzerinnen deutlich: So entscheiden sich die einen für den Gebrauch des Substantivs толкушка[3] in einer ungewöhnlichen semantischen Abwandlung, die anderen sind zurückhaltender und schreiben специальная деревянная палка (deutsch: spezielle Holzstange – M. W.); die einen wählen das seltene Wort выварка (russische Bezeichnung für ein Gefäß, in dem man Wäsche kocht; in Wörterbüchern teils als regional, teils als umgangssprachlich gekennzeichnet – M. W.), die anderen schreiben специальный чан (deutsch: spezieller Bottich – M. W.)
Ein zweiter Unterschied in den Strategien der Übersetzerinnen betrifft die Wortwahl zur Bezeichnung der Hauptfigur. In den meisten Übersetzungen ist das Neutrum Kind mit dem Wort ребёнок wiedergegeben. Stilistisch gesehen ist dieses Wort im Russischen jedoch eher im offiziellen und geschäftlichen Bereich sowie in Fachtexten angesiedelt als in der familiären Kommunikation. So kann man z. B. auf Deutsch den eigenen Nachwuchs mit „Kind!“ ansprechen, während im Russischen dafür andere Wörter gebraucht werden: детка, малыш, сынок, дочь. Das ist auch der Grund, warum in einer der Arbeitsfassungen der Übersetzung das Wort малыш auftaucht, obwohl es ansonsten, seiner starken emotionalen Färbung wegen, im gesamten Text nicht gebraucht wird. Mit dem Wort малыш kehrt der Erzähler zurück in den Kreis der Familie, es wird klar, dass es sich nicht um einen Außenstehenden handelt.
Allerdings sind die Substantive ребёнок und малыш beide Maskulina, weswegen zwei der Übersetzerinnen sich für das Äquivalent дитя entschieden haben, um so das neutrale Genus beizubehalten, damit der Leser die Hauptfigur nicht mit einem Jungen assoziiert. Meiner Ansicht nach dominiert im russischen Wort дитя seine stilistische Zugehörigkeit eindeutig gegenüber seiner Semantik. Дитя stammt aus dem Wortarsenal der Romantiker und durch seinen Gebrauch erfährt der Erzähler einen grundlegenden Wandel: Er beschreibt nicht mehr seine persönlichen Erinnerungen, sondern erzählt ein literarisches Märchen.
Somit unterscheiden sich die Übersetzerinnen hinsichtlich der von ihnen gesetzten Prioritäten: Die einen behielten das neutrale Genus des Substantivs bei, veränderten dabei aber die stilistische Färbung des Textes, andere wählten ein Maskulinum, um den familiären Erzählton zu erhalten, wieder andere entschieden sich einfach für die am häufigsten vorkommende Übersetzungsvariante.
Trotz allem ist die Figur in der Erzählung jedoch ein Mädchen und kein Junge. Belege dafür
findet man in zusätzlichen Quellen, z. B. den anderen Erzählungen des Sammelbandes von C. Ertmer. Hausarbeit war in den 1950-er Jahren in Westdeutschland ausschließlich Frauensache. Das wird in der Erzählung zwar nicht gesagt, aber deutschsprachige Leser nehmen „das Kind“ im Text eindeutig als Mädchen wahr.
Ein gemeinsames Merkmal aller sechs Übersetzungen ist ihre syntaktische Nähe zum Original, eine fast deckungsgleiche Wiedergabe der Syntax. Bei allen scheinbaren Gemeinsamkeiten der russischen und deutschen Sprache, wie dem Vorhandensein von Partizipien und persönlichen Verbformen, der Vielfalt der Tempora u. a., unterscheiden sich beide Sprachen jedoch im Gebrauch der syntaktischen Konstruktionen, der Wortfolge und anderer grammatikalischer Mittel. Um die Spezifik einer Phrase zu erhalten, d. h. ihre Semantik und Pragmatik, darf man deshalb nicht strikt der Struktur eines Satzes, ja nicht einmal eines Absatzes folgen. Es sei angemerkt, dass auch hier eine der Übersetzungen einen eigenständigeren Weg geht als die übrigen fünf. Finden Sie selbst heraus, welche!
Nachdem ich die sechs studentischen Übersetzungen vergleichend gelesen hatte, konnte ich nicht umhin, meine eigene Übersetzung anzufertigen. Mir schien das der kürzeste Weg zu sein, meine Lesart des Textes wiederzugeben. Dabei habe ich mir nicht ausdrücklich die Aufgabe gestellt, von den studentischen Übersetzungen abzuweichen, ich wollte nur den Sinn und die Konstruktion der Erzählung so präzise wie möglich zum Ausdruck bringen. Sollte deshalb der Eindruck entstehen, ich hätte die besten Ideen der Erstübersetzerinnen aufgegriffen und nach meinem Verständnis kombiniert, so widerspreche ich dem nicht.
Abschließend wiederhole ich nochmals: Die vorliegenden Übersetzungen sind nicht nur das Ergebnis einer Übung für beginnende Übersetzerinnen, sondern viel mehr noch eine anschauliche Illustration für den Leser, dem demonstriert wird, dass keine der Versionen mit dem Original gleichwertig ist und eine endgültige Lösung darstellt. Selbst die gelungenste Übersetzung ist bestenfalls ein Hilfsmittel mit Hinweisen zur besseren Erschließung des Originals. Aber dieses Hilfsmittel ist in der Regel unerlässlich.
Jekaterina Aralowa Übersetzung: Marlies Wenzel
[1] Eco, Umberto (2006): Skazat‘ počti to že samoe. Opyty o perevode. Übersetzt von A. Koval‘. St. Petersburg: symposium,
S. 8.
In deutscher Übersetzung: Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München: Carl Hanser Verlag, 2006 (Anm. d. Übers.)
[2] Interessant wäre ein Projekt, bei dem mehrere professionelle Übersetzer eine etwas umfangreichere Erzählung bearbeiten und ihre Übersetzungen anschließend gemeinsam mit dem Original in einem Sammelband veröffentlichen würden.
[3] Das Gerät, das auf Deutsch Wäschestampfer heißt und dazu dient, die Wäsche durchzuwalken und die mit Sauerstoff angereicherte Lauge durch das Gewebe zu pressen, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts auch in Russland verwendet. Als einzige Entsprechung dafür konnte ich английский валёк ausfindig machen. Ich bezweifle, dass diese ungewöhnliche und lange Bezeichnung sich in den künstlerischen Kontext der Erzählung einfügen würde; eine Verkürzung auf валёк ist ebenso unmöglich, weil dieser Gegenstand eine andere Funktion hat.
[Als валёк bezeichnet man im Russischen ein flaches, leicht gebogenes Holz mit Griff, das früher benutzt wurde, um beim Waschen bzw. Spülen auf die Wäschestücke zu schlagen. (M. W.)]