Grußwort von C. Ertmer
Grußwort
Mit Interesse und Spannung habe ich, dank des regen E-Mail-Austausches mit Frau Marlies Wenzel, den Weg verfolgen können, den meine kleine Geschichte Der Waschtag genommen hat. Diesen Prozess zu verfolgen, hat mich sehr gefreut. Schon früh habe ich für mich die Literatur als eine Möglichkeit entdeckt, Menschen anderer Länder kennen zu lernen. Über die Literatur, auch die russische, habe ich mich dem Fremden, dem Unbekannten, dem Neuen ausgesetzt, Freud und Leid, Hoffnungen und Befürchtungen mit den Protagonisten geteilt, ihre Welt mit ihren Augen gesehen.
Erst viel später, während meines Fremdsprachenstudiums, begriff ich, wie wichtig die Übersetzung bei der Vermittlung dieser fremden Welten war, die ich mir durch das Lesen zu eigen machte. Um dieser Vermittlerrolle gerecht zu werden, braucht es Übersetzer und Übersetzerinnen, die über die Bedeutung der Wörter in der Sprache hinaus ihren tieferen Sinn erfassen. Das ist eine große Herausforderung. Wer einen Text in eine andere Sprache überträgt, muss sich mit der Geschichte und der Kultur des anderen Landes beschäftigen. Er muss sich auf das Denken und Fühlen der Menschen in ihrer jeweiligen Zeit einlassen. Ein Roman, eine Erzählung, ein Gedicht in einer guten, einfühlsamen Übersetzung ermöglicht es den Lesern, sich auf die handelnden Personen einzulassen.
Um diese verantwortungsvolle und schwierige Arbeit bewältigen zu können, bedarf es über einen umfangreichen Wortschatz hinaus eines besonderen Sprachgefühls. Wie übersetzt man z.B.: Feuchte Schwaden wabern durch den Raum.? Synonyme haben zwar die gleiche Bedeutung, aber ihr Sinn differiert doch oft um Nuancen. Immer ist der Kontext zu berücksichtigen. Diese aufzuspüren, den Text in seiner Gesamtheit zu erfassen und, wie ein Puzzleteil, das passende Wort zu finden, ist eine Kunst. Jede Sprache hat ihren eigenen Klang, ihren eigenen Rhythmus. Im Idealfall gelingt es, beides von einer Sprache in die andere zu übertragen.
Der Aufgabe des Übersetzens hat sich eine Gruppe junger russischer Studentinnen unter der Leitung von Frau Marlies Wenzel gestellt. Allein die Tatsache, dass es mehrere Übersetzungsvarianten zu einem Text gibt, zeigt, dass sie ihre Arbeit sehr ernst genommen, dass sie sich intensiv mit den Bedeutungsnuancen auseinandergesetzt haben. Sie haben viel diskutiert und in einem Workshop am Ende des Seminars unter der Leitung von Frau Marlies Wenzel und der Moskauer Übersetzerin Frau Jekaterina Aralowa ihre unterschiedlichen Übersetzungsergebnisse auf den Prüfstand gestellt.
Als junges Mädchen habe ich Schuld und Sühne von Dostojewskij gelesen. Jahrzehnte später erschien derselbe Roman unter dem Titel Verbrechen und Strafe noch einmal. Schon aus den Titeln kann man eine verschiedene Sichtweise auf das Geschehen ableiten. An diesem Beispiel lässt sich der Einfluss der Wortwahl auf die Bilder erkennen, die beim Lesen entstehen. Tatsächlich habe ich Raskolnikows Geschichte bei der nochmaligen Lektüre in einer besseren Übersetzung völlig neu erlebt.
Mein Bild von Russland und seinen Menschen war in meiner Jugend geprägt von den Romanen und Erzählungen der großen russischen Dichter und Schriftsteller. Bis heute allerdings vermisse ich einen Zugang zu den modernen russischen Autorinnen und Autoren. Nur wenige werden ins Deutsche übersetzt. Umgekehrt, vermute ich, wird es ähnlich sein. Das finde ich bedauerlich, da Übersetzungen dazu beitragen könnten, den Austausch zwischen jungen russischen und deutschen Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu fördern. Darüber hinaus könnten auch die Leserinnen und Leser von ihren Erfahrungen profitieren. Romane, Erzählungen, Gedichte sind ein Medium, die Menschen nicht als Masse, sondern als Individuum wahrzunehmen, jenseits aller politischen Verwerfungen und Missverständnisse.
Ein erster Schritt ist gemacht. Ein kleiner deutscher Text ist in ins Russische übertragen worden. Das macht mich froh und lässt mich hoffen, dass weitere Schritte folgen werden. Den Studentinnen wünsche ich, dass sie Deutschland besuchen und kennen lernen werden. Gleichgültig, wie viel man liest, ist letztlich die unmittelbare Begegnung zwischen den Menschen immer noch die beste und wirksamste Möglichkeit, sich selbst im Anderen zu erkennen und sich fremd Scheinendes anzueignen.
Cornelia Ertmer, Herzebrock und Dortmund, im Juni 2019