Projektbeschreibung M. Wenzel
→ zur russischen Übersetzung der Projektbeschreibung
Nase hoch beim Übersetzen! Man übersetzt also nicht von links nach rechts, wie eine Raupe kriecht, sondern nachdem man sich den Satz angeeignet hat. Er muss nach innen genommen, ans Herz gelegt werden. Ich lese das Buch so oft, bis die Seiten Löcher kriegen. Im Grunde kann ich es auswendig. Dann kommt der Tag, an dem ich plötzlich die Melodie des Textes höre. Svetlana Geier, Übersetzerin |
Kurzbeschreibung des Projekts Übersetzung der Erzählung WASCHTAG von CorneliaErtmer ins Russische durchgeführt am Lehrstuhl für Germanistik und interkulturelle Kommunikation der Staatlichen Universität Pjatigorsk, September 2018 – April 2019 | ||
Projektleitung | ||
Marlies Wenzel, DAAD-Lektorin, Staatliche Universität Pjatigorsk (PGU), 2014-2019 Dr. Jana George, DAAD-Lektorin, Föderale Universität des Nordkaukasus (SKFU) | ||
Begleitung der fachlichen Auswertung | ||
Jekaterina Aralowa, Übersetzerin, Moskau | ||
Studentische Teilnehmerinnen | ||
PGU | Anfjorowa, Jekaterina Dolgowa,Jelenanbsp; Grischtschenko, Walerija | Paschinskaja, Ludmila Tljantschewa, Marianna |
(Institut für romano-germanische Sprachen, Informations- und humanwissenschaftliche Technologien, Lehramt Deutsch/Englisch, zum Zeitpunkt des Projekts 4. Studienjahr) | ||
SKFU | Kutschinskaja, Jekaterina Rudakowa, Darja Semenichina, Arina | |
(Humanwissenschaftliches Institut, Fachrichtung Translationswissenschaft, zum Zeitpunkt des Projekts 2. Studienjahr) | ||
Alle Teilnehmerinnen studieren Deutsch als erste Fremdsprache. Die Projektarbeit wurde an der PGU außerunterrichtlich, in der Gruppe der SKFU im Rahmen des Unterrichts in der Disziplin „Kultur der mündlichen Kommunikation“ (Praktikum) durchgeführt. Die Studentinnen der PGU fertigten ihre Übersetzung in Einzelarbeit an, die Studentinnen der SKFU im Team. | ||
Finanzierung | ||
Das Projekt wurde aus Mitteln der Projektpauschale für DAAD-Lektoren finanziert. www.daad.ru | ||
Vorgeschichte des Projekts
Die Idee zur Durchführung eines Projekts zum literarischen Übersetzen entstand im Zusammenhang mit einer literarisch-musikalischen Veranstaltung, die im April 2018 an der Staatlichen Universität Pjatigorsk stattfand. Im Rahmen dieser musikalischen Lesung trugen Studierende Ausschnitte aus literarischen Werken deutscher Klassiker in Originalsprache vor. Ein besonderer Programmteil war außerdem Texten zeitgenössischer Autoren aus dem Bundesland Nordrhein-Westfalen gewidmet. Unter letzteren beeindruckte mich sowohl inhaltlich als auch sprachlich eine Kurzgeschichte, die bei der Veranstaltung – gelesen von der Autorin Cornelia Ertmer – als Audio eingespielt wurde. Später nahm ich Kontakt zu C. Ertmerauf und erfuhr, dass besagte Kurzgeschichte aus ihrem Debüt-Erzählband Der Geschmack von Lebertran. Eine Kindheit in den 50-er Jahren[1] stammt. Dieser Sammelband enthält 50 Kurzerzählungen, in denen C.Ertmer Erinnerungen an ihre Kindheitsjahre im Westdeutschland der Nachkriegszeit verarbeitet. Die Autorin zeichnet eine für die damalige Zeit typische Kindheit, die man schwerlich als sorglos bezeichnen kann, obwohl sie mit der Zeit des sogenannten „Wirtschaftswunders“ zusammenfiel.
Nach der Lektüre mehrerer Erzählungen aus C. Ertmers Sammelband kam ich zu dem Schluss, dass diese ein reiches landeskundliches Potenzial aufweisen und deshalb als interessantes Unterrichtsmaterial für Studierende mit der Fremdsprache Deutsch dienen können. Mein eigenes Interesse am literarischen Übersetzen sowie die diesbezüglich in den Lehrveranstaltungen zur Hauslektüre gesammelten Erfahrungen bildeten den Ausgangspunkt für die Idee unseres Projekts: die Spezifik einer Erzählung von C. Ertmer mittels ihrer Übersetzung in die russische Sprache zu erschließen.
Inhalt und Ziele des Projekts
Für unser Projekt wählten wir aus C. Ertmers Sammelband die Erzählung WASCHTAG aus.
Die Teilnehmerinnen erhielten die Aufgabe, diesen Text ins Russische zu übertragen, wobei das Hauptziel darin bestand, ihnen die Etappen und die Spezifik der Vorgehensweise beim literarischen Übersetzen an einem praktischen Beispiel aufzuzeigen. Für unsere Projektarbeit stellten wir uns folgende Teilziele:
- Entwicklung der Fähigkeit, das Wesen und die Besonderheiten eines originalsprachlichen literarischen Textes zu erfassen
- Entwicklung von Fertigkeiten zur detaillierten Analyse des Originaltextes unter Berücksichtigung von Inhalt und Form
- Entwicklung von Fertigkeiten zum Erkennenübersetzerischer Probleme, die sich aus der vergleichenden Gegenüberstellung der sprachlich-kulturellen Spezifik des Originals mit den Besonderheiten der russischen Sprache und Kultur ergeben
- praktische Vermittlung einiger Verfahren zur Lösung übersetzerischer Probleme
- Sensibilisierung der Teilnehmerinnen für einen bewussteren Umgang mit der Muttersprache, insbesondere für Feinheiten der Wortwahl und stilistische Nuancen, sowie Ausprägung des Verständnisses für deren Auswirkungen auf die Rezeption des Textes durch den russischsprachigen Leser
Es sei ausdrücklich hervorgehoben, dass die Aufgabe der Projektteilnehmerinnen nicht darin bestand eine „perfekte“, druckreife literarische Übersetzung der Erzählung WASCHTAG anzufertigen. Das hätten diese auch gar nicht leisten können, denn die Mehrzahl von ihnen waren, wie oben bereits erwähnt, Lehramtsstudentinnen und somit keine künftigen Übersetzer/Dolmetscher, sondern Deutschlehrkräfte. Folglich richtete sich unser Hauptaugenmerk während der Projektarbeit auf die Entstehung einer literarischen Übersetzung als Prozess. Im Mittelpunkt standen dabei
- die Analyse des Originals mit Schwerpunkt auf dem Erkennenlandeskundlich-sprachlicher Besonderheiten und ihres Einflusses auf den Übersetzungsprozess
- die Diskussion möglicher Lösungen für Übersetzungsprobleme
- die Diskussion verschiedener Übersetzungsvarianten.
Phasen der Projektarbeit
09/2018 | Organisatorische Vorbereitung: – Auswahl des Textes – Abstimmung des Projektes mit der Autorin C. Ertmer und dem OCM Verlag |
01.10.2018 | Erstzusammenkunft der Projektgruppe: – Einführung in die Spezifik des literarischen Übersetzens (Präsentation der Projektleiterin) – Erläuterung der Zielstellung des Projektes und Diskussion projektorganisatorischer Fragen – Vorstellung des Erzählbandes Der Geschmack von Lebertran und seiner Autorin |
15.10.2018 | Erster Austausch von Eindrücken nach der Lektüre der Erzählung WASCHTAG; erste Analyse des Inhalts und landeskundlich-sprachlicher Besonderheiten des Originaltextes; Benennung von Übersetzungsproblemen, Entwicklung erster Lösungsansätze |
29.11.2018 13.12.2018 18.02.2019 25.02.2019 04.03.2019 | Für die weitere Arbeit wurde die Erzählung WASCHTAG in fünf Abschnitte gegliedert. Alle Projektteilnehmerinnen fertigten schrittweise jeweils ihre individuelle Übersetzung des jeweiligen Abschnittes an. Diese wurden nacheinander während der Treffen der Projektgruppe diskutiert. |
18.03.2019 | Abschluss der Arbeit an den individuellen Übersetzungen |
26.04.2019 | Workshop aller Projektteilnehmerinnen unter Leitung der Übersetzerin J. Aralowa (Moskau) mit Teilnahme von Prof. W. I. Schulshenko, Leiter der Abt. Literarisches Schaffen am Institut für Translationswissenschaft und Mehrsprachigkeit der PGU |
Prinzipien und Methoden der Durchführung
Die Projektarbeit wurde auf Grundlage der folgenden Prinzipien und Methoden gestaltet:
- Das Prinzip der freiwilligen Teilnahme setzte auf das Interesse und die persönliche Motivation der Projektteilnehmerinnen und war eine wichtige Voraussetzung für kreatives Arbeiten.
- Das Prinzip der Kombination von Individual- und Gruppenarbeit fand seine Anwendung darin, dass jede Projektteilnehmerin zunächst ihre individuelle Übersetzung anfertigte. Diese wurde dann in der Gruppe vorgestellt und gemeinsam diskutiert mit dem Ziel, anschließend zur eigenen Übersetzungsvariante zurückzukehren und diese zu vervollkommnen. So gab es einen ständigen Wechsel von Individual- und Gruppenarbeit.
- Das Prinzip des freien Meinungsaustausches unter den Projektteilnehmerinnenbei der Diskussion verschiedener Übersetzungsvarianten wurde während des gesamten Projektes konsequent umgesetzt. Die Projektleiterinnen spielten in diesen Diskussionen eine eher begleitende und behutsam richtungslenkende Rolle, was nicht zuletzt darin begründet lag, dass sie deutsche Muttersprachlerinnen sind und deshalb die „richtige“ Übersetzung ins Deutsche nicht vorgeben konnten, sondern nur dabei helfen konnten, alle Feinheiten des deutschen Originals zu erschließen und die Suche nach geeigneten Lösungen für Übersetzungsprobleme mit Hinweisen und Empfehlungen zu begleiten.
Für jede Zusammenkunft der Projektgruppe stellten die Projektleiterinnen die individuellen Übersetzungsvarianten, die in den studentischen Übersetzungen für einzelne Wörter, Wortgruppen oder Sätze Gebrauch fanden, in einer Übersichtspräsentation zusammen. Durch präzisierende Fragen bzw. kritisch hinterfragende Hinweise regten sie den Austausch zwischen den Projektteilnehmerinnen und einen kreativen Meinungsstreit an. Die Zusammenkünfte der Projektgruppe waren davon geprägt, dass in den meisten Fällen auf Fragen keine eindeutigen Antworten in Form von ja/nein bzw. richtig/falsch gegeben wurden, sondern Hilfestellungen für die Suche nach geeigneteren Übersetzungsvarianten.
- Bei der Arbeit an ihren Übersetzungen bedienten sich die Projektteilnehmerinnen u. a. folgender Methoden:
- Nutzung von Paralleltexten[2] in deutscher und russischer Sprache
- Erstellung eines Glossars, in dem semantisch schwierige Wörter bzw. Wortverbindungen und ihre Bedeutungserklärungen sowie erste Überlegungen zu möglichen Übersetzungsvarianten erfasst wurden
- E-Mail-Korrespondenz mit der Autorin C. Ertmer zur Klärung semantischer und stilistischer Feinheiten des deutschen Originals
- Befragung von Müttern und Großmüttern zum Thema „Wie wurde früher Wäsche gewaschen?“
Der Workshop unter Leitung der Übersetzerin Jekaterina Aralowa, der am 26. April 2019 an der Staatlichen Universität Pjatigorsk stattfand, bildete einen gelungenen Abschluss unseres Projektes zum literarischen Übersetzen. Zwischen den erfahrenen Fachleuten, zu denen auch der Leiter der Abteilung Literarisches Schaffen des Instituts für Translationswissenschaft und Mehrsprachigkeit der PGU zählte, und den am Projekt beteiligten Studentinnen kam es zu einem spannenden Austausch über zahlreiche Fragen der vergleichenden Analyse der im Ergebnis unseres Projektes entstandenen Übersetzungsversionen.
→zur Projektauswertung von J.Aralowa
Fazit
Abschließend lässt sich das beschriebene Projekt als spannend, nützlich und erfolgreich einschätzen. Das Hauptziel – die Teilnehmerinnenmit dem Prozess des literarischen Übersetzens, seiner Spezifik und seinen Schwierigkeiten vertraut zu machen – haben wir erreicht. Die Studentinnen konnten sich anhand eines praktischen Beispiels davon überzeugen, dass literarisches Übersetzen viel mehr ist als die Übersetzung von Wörtern und Sätzen. In diesem komplexen und vielschichtigen Prozess verweben sich miteinander zwei Sprachen und zwei Kulturen, die künstlerische Welt des Autors und die Rezeption des Textes durch den Übersetzer und nicht zuletzt die vorausblickend angenommene Rezeption der Übersetzung durch den potenziellen Leser.
Wir sind der Auffassung, dass solche und ähnliche Projekte zum literarischen Übersetzen für Studierende aller linguistischen Studiengänge von Nutzen sein können. Sie fördern das Interesse an literarischen Texten in der Fremdsprache und sensibilisieren für Besonderheiten sowohl der Fremd- als auch der Muttersprache. Der Workshop zur abschließenden Auswertung des Projektes erwies sich als effizientes Format zur Diskussion von Übersetzungsproblemen, weil das Ergebnis der Diskussion weniger vom Wissen des Workshopleiters abhängt als von seinem Vermögen, das kreative Potenzial jedes einzelnen Teilnehmers zur Wirkung zu bringen. In diesem Sinne haben die Projektleiterinnen und die beteiligten Fachleute für sich ebenfalls viel Neues entdeckt.
Marlies Wenzel
[1] Ertmer, Cornelia: Der Geruch von Lebertran. Eine Kindheit in den 50-er Jahren. Dortmund: OCM Verlag 2019. https://www.ocm-verlag.de/autoren/cornelia-ertmer/
[2] Unter Paralleltexten verstehen wir originäre Texte in verschiedenen Sprachen, die dasselbe oder ein sehr ähnliches Thema behandeln, derselben Textsorte angehören und keine Übersetzungen sind. Für unser Projekt wurden Sachtexte genutzt, die den Prozess des Wäschewaschens in vergangenen Zeiten in Deutschland und Russland beschreiben.